Bei großer Musik gibt es keine Kleinigkeiten

Bärenreiter Urtext: Dem Komponisten auf der Spur

Bärenreiter gehört durch die seit den 1950er-Jahren herausgegebenen Gesamt- und Werkausgaben großer Komponisten zu den Pionieren wissenschaftlich-kritischer Notenausgaben. Während ein großer Teil der „Bärenreiter Urtext“-Editionen auf dem Notentext dieser großangelegten Publikationen basiert – so die praktischen Ausgaben von Werken Bachs, Händels, Glucks, Mozarts, Schuberts, Berlioz’, Faurés oder Saint-Saëns’ –, veröffentlicht der Verlag auch eine Vielzahl hiervon unabhängiger Urtext-Ausgaben. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Editionen der Symphonien und Klaviersonaten Beethovens (Jonathan Del Mar), der Ouvertüren Mendelssohns (Christopher Hogwood), Ravels Konzert für die linke Hand und Debussys „Drei symphonische Skizzen“ La Mer (Douglas Woodfull-Harris) sowie des Violinkonzerts von Brahms (Clive Brown).

Bezogen auf Noteneditionen taucht der Begriff „Urtext“ – soweit bekannt – erstmals für die 1895 bis 1899 bei Breitkopf & Härtel erschienene Reihe „Urtext classischer Musikwerke“ auf, herausgegeben von der Akademie der Künste Berlin mit Klavierwerken von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart, Beethoven und Chopin. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch konnte sich der – im Übrigen nicht fest definierte oder geschützte – Terminus allmählich durchsetzen. Die Marke „Bärenreiter Urtext“ gilt international als Synonym für kritische, auf Grundlage aller verfügbaren Quellen edierte und neueste Erkenntnisse einbeziehende Notenausgaben für die musikalische Praxis, herausgegeben von renommierten Musikforschern und Interpreten. Editorische Entscheidungen und Lesarten werden in einem Kritischen Kommentar dokumentiert – dem Herzstück einer jeden Urtext-Edition –, der dazu eine genaue Beschreibung der Quellen enthält. Das oftmals umfangreiche, von ersten Skizzen bis zu autographen Korrekturen im bereits gedruckten Werk reichende und gegebenenfalls auch Tonaufnahmen des Komponisten umfassende Konvolut der Quellen erfährt zusätzliche Ausweitung durch die Sichtung sekundärer Quellen wie Schülerexemplare, Briefe und Aussagen von Zeitzeugen. Oberste Leitlinie ist, der Intention des Komponisten so nah wie möglich zu kommen, wobei editorische Eingriffe auf ein Minimum zu beschränken sind.

Das mag auf den ersten Blick einfach klingen, birgt aber bereits eine ganz wesentliche Schwierigkeit in sich. Liegen beispielsweise mehrere, voneinander abweichende Autographe oder autorisierte Abschriften vor, die parallel gedruckten Originalausgaben als Stichvorlagen dienten, erscheint die Frage nach der Intention des Komponisten kompliziert, geht man von einer intendierten Werkgestalt aus. Nicht nur Komponisten wie Chopin oder Liszt entziehen sich einem solchen Werkverständnis. Die Idee des „Urtexts“, d. h. der vom Komponisten tatsächlich beabsichtigte Wortlaut des Notentextes, ist eng verflochten mit dem individuellen Werkbegriff. Die Frage nach dem „Falsch“ oder „Richtig“ relativiert sich ein Stück weit vor diesem Hintergrund. Die durch neue Quellenfunde notwendig gewordene Neuedition von Mozarts populärer Sonate A-Dur KV 331 („Alla Turca“) enthält zwei Fassungen der Sonate: die des Erstdrucks und – gleichberechtigt – erstmals auch die Rekonstruktion ihrer autographen Überlieferung. Zwei verschiedene Fassungen eines prominenten Werks enthält darüber hinaus die neue Urtext-Edition von Beethovens Bagatelle a-Moll WoO 59 („Für Elise“), in der die Abweichungen der Revision zur zweiten Fassung durch Graustich sichtbar gemacht werden.

Die Fragen, mit denen sich die Herausgeberin, der Herausgeber konfrontiert sehen, sind vielfältig. Anders als es die Vorsilbe „Ur“ suggeriert, ist Urtext nicht gleichzusetzen mit der ersten autographen Fixierung des Werks: „Oft denkt ein Komponist weiter, er ändert seine Meinung, aber das Manuskript ist schon beim Drucker. […] Wenn wir dann den Erstdruck anschauen, steht dort etwas ganz anderes als im Manuskript, was ziemlich sicher auf die letzten Änderungen im Korrekturabzug hinweist.“ (Jonathan Del Mar) Grundlegende Voraussetzung ist die Feststellung der Quellenfiliation, auf die – fehlen Datierungen – textliche Abhängigkeiten wichtige Hinweise geben können. Ist das Notat, sind die darin für die Ausführung mitgeteilten Details vollständig? Entspricht es der Absicht des Komponisten, Informationen, die in dem als Hauptquelle identifizierten Notat nicht vorhandenen sind, aus einer oder weiteren anderen (autorisierten) Quelle(n) in erstere ergänzend oder korrigierend zu übertragen und so einen zwar quellenbasierten, aber historisch nicht belegten Notentext herzustellen? Sollen in der Quelle unterschiedlich notierte Parallelstellen angeglichen werden? Nicht selten bleibt die Notation auch bewusst offen wie in Skrjabins früher Sonate es-Moll (T. 4, 10 usw.), in der der Komponist bei der rhythmischen Notierung scheinbar die Punktierung vergessen hat. Welch hoher Aufwand bisweilen notwendig ist, dem „Urtext“ eines Werkes auf die Spur zu kommen, zeigt Bachs Autograph zur h-Moll-Messe. Mithilfe von Röntgenfluoreszenzanalyse der Tinte konnten Korrekturen, Ergänzungen und Veränderungen C. Ph. E. Bachs von der Handschrift seines Vaters unterschieden und in der Ausgabe editorisch gekennzeichnet werden. Zusätzliche Informationen aus den von Bach größtenteils selbst geschriebenen „Dresdner Stimmen“ von 1733 wurden durch Graustich vom autographen Notat typografisch abgehoben.

Musik ist eine flüchtige Kunst. Entlässt der Komponist das Werk aus der Privatheit der Studierstube in die Öffentlichkeit, beginnt es ein unabhängiges Leben mit eigenem Recht zu führen. Eine Komposition entsteht bei jeder Aufführung neu, und manchmal glaubt man verschiedene Werke zu hören, auch wenn sie auf demselben Notentext basieren. Anders als Literatur, Poesie, Malerei und Bildende Kunst bildet das Notat nur einen Teil des musikalischen Kunstwerks ab. Kaum oder gar nicht notiert sind zeitgenössische Gepflogenheiten des Musizierens. Passen sich aufführungspraktische Selbstverständlichkeiten einer Epoche dem veränderten Stilempfinden einer nachfolgenden an, brechen Traditionen ab. Der Zugang zum älteren Repertoire wird erschwert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der Markt mit Notenausgaben überschwemmt, die zahlreiche ungekennzeichnete Änderungen, Ergänzungen oder „Verbesserungen“ im Sinne spielpraktischer Hilfen für die eigene Zeit enthielten. Daneben erschienen einflussreiche „instruktive“ Ausgaben von Werken großer Komponisten des klassischen Kanons, wie diejenigen von Beethovens Klaviersonaten von Hans von Bülow und Arthur Schnabel oder etwa Clara Schumanns Ausgabe der Klavierwerke ihres Mannes Robert. Sie sollten –schriftliche Vorläufer der Tonaufzeichnung – exemplarische Interpretationen für Zeitgenossen und Nachwelt festhalten, die ihrerseits zum historischen Dokument wurden, wie zum Beispiel Mendelssohns Bearbeitung von Bachs Matthäus-Passion, die als „Bärenreiter Urtext“-Edition vorliegt.

Als Gegenreaktion wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Neuen Sachlichkeit, der Ruf laut nach einem von fremder Zutat entschlackten Notentext, für den nicht wenige sogar editorische – und damit interpretierende – Fingersätze ausschließen. Spielanweisungen, wie sie die instruktiven Ausgaben enthielten, wurden pauschal verworfen, ihre historische Bedeutung nicht erkannt, was die Diskreditierung des schöpferischen Virtuosentums wirkungsvoll mit besiegelte. Die Essenz des Notats, der bereinigte „Urtext“, eroberte die Notenpulte der Musiker. Unbedingte Texttreue, die nicht selten ein klinisch reines Spiel in metronomisch genauem Tempo hervorbrachte, wurde zum Ideal. Als Notwendigkeit für die Entschlüsselung des so hergestellten „Urtextes“ wurde von Musikern bald erkannt, wovor Hugo Riemann 1894 noch eindringlich gewarnt hatte: „Damit soll nicht etwa sogenannten, ‚historisch-treuen‘ Konzerten das Wort geredet werden, welche auch das Pianoforte verschmähen und an seiner Stelle das Klavicimbal gesetzt wissen wollen – so ehrenwerth auch diese Bestrebungen sind, so müssen sie doch wegen ihrer Konsequenzen abgelehnt werden (sonst müsste man auch Bach’s wohltemperirtes Klavier auf dem Klavicimbal oder gar Klavichord spielen!).“

Je weiter entfernt eine Komposition der eigenen Gegenwart ist, desto größer war zu jeder Zeit der Bedarf an zusätzlicher Information, um das Werk in all seinen Dimensionen erfassen zu können. Dieser Forderung entsprechen „Bärenreiter Urtext“-Ausgaben in besonderer Weise. Neben einführenden Texten zu Werk und Quellenlage bieten sie in Informationen von Spezialisten zu aufführungspraktischen Konventionen der Zeit wie Verzierungen, Pedalgebrauch, Artikulation, Tempo- und Tempomodifikation sowie zu spieltechnischen Idiosynkrasien des Komponisten, u. a. zu Rubato, Cantilene (nicht notierte Binnenmelodik) und Überlegato, exemplarisch bei Chopin, außerdem zu Instrumentarium und Besetzungsvarianten. Beispiele sind die neuen Urtext-Ausgaben von Haydns späten Klaviersonaten (Rebecca Maurer), Klavierwerken Chopins (Hardy Rittner) und Schuberts, hier vor allem zur Deutung seiner Akzentzeichen (Mario Aschauer), François Couperins Pièces de clavecin (Denis Herlin) und Mozarts vierhändigen Klavierwerken mit Ausführungsvorschlägen zu Fermaten und Eingängen (Michael Töpel). Mit umfangreichen Erläuterungen zur historischen Aufführungspraxis versehen ist die Urtext-Edition der Violinsonaten von Brahms (C. Brown). Eine andere Lösung bietet die Ausgabe von Beethovens Romanze op. 50 (J. Del Mar), in deren Autograph sich nur sehr wenige Angaben zu Artikulation und Dynamik finden. Erstmals bietet sie Beethovens authentischen Notentext ohne die Vielzahl fremder, nicht gekennzeichneter Herausgeberzusätze sowie, basierend auf anderen Werken Beethovens aus derselben Zeit, eine Edition des Werks ergänzt um aufführungspraktische Hilfen. Die Urtext-Edition von Mendelssohns Konzert für Violine und Orchester op. 64 (R. Larry Todd / C. Brown) präsentiert das Werk aufgrund neu aufgetauchter Quellen in zwei Fassungen – mit dazu angeboten wird ein separates Heft zur Aufführungspraxis des Konzerts und Mendelssohns Kammermusik für Streicher. Auch zu Brahms’ Kammermusik liegt ein begleitendes Heft mit aufführungspraktischen Hinweisen von Clive Brown vor.

Warum immer wieder neue Urtext-Ausgaben? „Der törichte Einwand, in Aufführungen würden Unterschiede der Redaktionen kaum oder gar nicht hörbar, sofern man nicht mit Vorkenntnis gezielt hört, erledigt sich von selbst. Bei großer Musik gibt es keine Kleinigkeiten, dort haben auch Bestätigungen bekannter Sachverhalte Gewicht“ (Peter Gülke). Die Forschung entwickelt sich kontinuierlich weiter und damit – ganz ähnlich wie bei Neuaufnahmen bereits eingespielter Werke – die Sichtweise auf die Musik, von der die Deutung zweifelhafter Stellen, von Schreib- oder Stichfehlern und intendierten Abweichungen beeinflusst sein kann, denn Edieren bedeutet stets auch eine dem Zeitgeist und Kenntnisstand verpflichtete Interpretation der Quellen. Der wichtigste Auslöser aber ist zweifellos die Entdeckung neuer Quellen. So hatte jüngst Jonáš Hájek für die Neuedition von Dvořáks Nocturne H-Dur op. 40 die zweite autorisierte Abschrift des Werks – die Vorlage für den Erstdruck – in Privatbesitz entdeckt und konnte damit den Urtext der Fassung für Streichorchester freilegen.

Dem hohen inhaltlichen Anspruch der „Bärenreiter Urtext“-Ausgaben steht eine leichte Benutzbarkeit gegenüber. Sie richten sich ausdrücklich an die musikalische Praxis, gleichermaßen an professionelle Interpreten wie an Pädagogen, Studenten, Schüler und Musikliebhaber. Ihnen allen wird ein zuverlässiger Notentext an die Hand gegeben, ergänzt durch ein hohes Maß an Informationen zum Werk und zu seiner Ausführung. Besonderer Wert wird auf die ausgezeichnete Druckqualität und Verarbeitung sowie einen lesefreundlichen Notenstich auf hochwertigem getönten Papier gelegt, der auch komplexe Strukturen leicht erfassen lässt. Praktische Wendestellen sind selbstverständlich. Bietet sich keine Möglichkeit zum Wenden an, sorgen Ausklappseiten für ein ungestörtes Spiel. Die reichhaltige Ausstattung der „Bärenreiter Urtext“-Ausgaben soll Musikern bestmögliche Voraussetzungen für erfüllendes Musizieren bieten.

Britta Schilling-Wang