Wiederaufbau und Weitung
Der Bärenreiter-Verlag in der Nachkriegszeit
Karl Vötterle hat „das Wiederanfangen-Dürfen aus dem Nichts“ in Anlehnung an den Theologen Karl Barth als „Gnade des Nullpunkts“ ¹ begriffen, und tatsächlich ist in allen Darstellungen dieser Zeit eine enorme Aufbruchstimmung greifbar. „Weg mit dem Schutt!“ – dieses Motto stand nicht nur über dem mühsamen Wiederaufbau der Verlagsgebäude, sondern im übertragenen Sinne auch über der Befreiung von den Nachwehen der NS-Zeit. Freilich ist die vielbeschworene „Stunde Null“ nicht mehr als ein Narrativ, denn die Zukunft des Bärenreiter-Verlags war nicht denkbar ohne seine Vergangenheit, an die sich anknüpfen ließ und anzuknüpfen war, und dies zunächst ganz pragmatisch: Dreißig verbliebende bzw. zurückgekehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter krempelten ihre Ärmel hoch, räumten Trümmer beiseite, suchten nach noch Brauchbarem und setzten mit dem Maurersohn Vötterle bis Weihnachten 1945 ein neues Dach über die Außenmauern des sogenannten Neubaus. Mit professioneller Unterstützung, aber unter den widrigen Bedingungen der allgemeinen Mangellage, wurden Behelfsgebäude errichtet, Innenausbauten vorangetrieben, Möbel und Maschinen organisiert; große Gemüsefelder im Verlagsgarten halfen, die Versorgungslage aller zu verbessern. Improvisationstalent, der Teamgeist des Familienbetriebs und nicht zuletzt das Gottvertrauen des Verlegers machten es möglich, dass noch 1945 zunächst mit dem Verkauf antiquarischer Bücher begonnen werden konnte, die aus einem zugemauerten Bärenreiter-Keller gerettet bzw. aus dem Bestand einer käuflich erworbenen Bibliothek und zahlreichen Geschenken von Verlagsfreunden stammten. Nach der Erteilung der Verlegerlizenz an den Cheflektor Richard Baum im Januar 1946 – Karl Vötterle durfte erst nach Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens Ende 1947 wieder selbst übernehmen – und dank der wohlgesonnenen amerikanischen „Information Control“ konkretisierten sich erste Verlagsprojekte: Insbesondere die Zeitschriften wie Die Neue Schau und Musik und Kirche waren dazu auserkoren, „im Dienste der Verlagsidee“ Nachkriegsdeutschland „genügend aufbauende Kräfte“² zu erschließen; dasselbe galt für den neu hinzugekommenen Verlagszweig der Laienspiele. Für den Notendruck mangelte es trotz mancher Geschenklieferung aus dem Ausland zunächst noch an Papier, weswegen anfangs Archivbestände, die in einer Ziegelei im Landkreis Kassel den Krieg überstanden hatten, als Leihmaterial ausgegeben wurden.
Einen Neuanfang gab es für Karl Vötterle auch privat: Bereits im März 1945 hatte er in Hildegard Preime, der Witwe des im Krieg gefallenen Kunsthistorikers und Bärenreiter-Autors Eberhard Preime, eine neue Lebenspartnerin und Mutter für seine vier Kinder gefunden. Zweieinhalb Jahre später, am 27. November 1947, brachte sie eine Tochter zur Welt: Barbara. Sie übernahm nach dem Tod ihres Vaters 1975 die Verlagsleitung.
1947 beschäftigte der Verlag bereits wieder 86 Mitarbeiter; Zug um Zug konnten ältere Titel neu aufgelegt und das Verlagsprogramm erweitert werden. Zum Gesamtverzeichnis 1949, das insofern ein „Torso“ war, als es „nur einen kleinen Teil der in den fünfundzwanzig Jahren seit der Gründung des Bärenreiter-Verlages erschienenen Veröffentlichungen“³ enthielt, kam 1950 ein Nachtrag heraus, der alle Neuerscheinungen zwischen Juni 1949 und September 1950 sowie Neudrucke auflistet: Unter den mehr als 200 Titeln waren der beliebte Quempas, die Werke von Heinrich Schütz und Tastenmusik von Johann Sebastian Bach, neue Namen wie Helmut Bornefeld, Willy Burkhard, Johannes Driessler, Christian Lahusen, Hans Friedrich Micheelsen und Siegfried Reda, die ersten Hefte der Hortus-musicus-Reihe, aber vor allem auch die ersten vier Lieferungen der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Dass Vötterle während der NS-Zeit „Trost in großen Plänen“⁴ gefunden hatte, war keineswegs romantischer Verlegerfantasie entsprungen. Mit Zielstrebigkeit und ausgesprochenem Gespür für nützliche Kontakte sowie dem Talent, im richtigen Moment Entscheidungen zu treffen, hatte er noch während des Kriegs die Realisierung dieser Pläne angestoßen. Mit dem Kieler Musikwissenschaftler und in der NS-Zeit gut vernetzten Friedrich Blume verband ihn nicht nur die Vorbereitung und Herausgabe der MGG, sondern auch die Gründung der Gesellschaft für Musikforschung (1947) sowie das strategische Miteinander bei der Vorbereitung und Umsetzung zahlreicher Gesamtausgabenprojekte. War das erste Projekt, die Gluck-Gesamtausgabe, noch von den Nationalsozialisten maßgeblich unterstützt worden, entstanden die Ausgaben der Werke von J. S. Bach, Telemann, Mozart und Händel ganz aus dem Geist der Nachkriegszeit heraus, in der die Erfahrung der Zerstörung von Kulturgütern unmittelbar präsent und der Wunsch nach Bewahrung und Ordnung des Überlieferten bestimmend waren. In seinem programmatischen Aufsatz Die Stunde der Gesamtausgabe verwies Vötterle darauf, dass derlei Projekte „von der Sinngebung der verlegerischen Aufgabe her in die Zukunft“ ⁵ weisen. In der Rückschau hat sich dies nicht nur für den Bereich der Gesamtausgaben und den daraus resultierenden Ausbau des Bärenreiter-Urtext-Programms bewahrheitet, sondern auch wissenschaftlich wie politisch im Hinblick auf die Überwindung internationaler Grenzen und insbesondere derjenigen des Eisernen Vorhangs. Spätestens als Vötterle am 3. März 1951 von Bundespräsident Theodor Heuss den Auftrag für die Neue Ausgabe sämtlicher Werke von Johann Sebastian Bach erhielt, war Bärenreiter zu dem geworden, was er anfangs doch gar nicht hatte sein wollen: zu einem Musikverlag von Weltrang.
Gudula Schütz
¹ Karl Vötterle, Haus unterm Stern 41969, S. 186.
² Der Bärenreiter-Bote, 11. Folge, Kassel 1947, S. [17] bzw. [13].
³ Gesamtverzeichnis, Kassel und Basel 1949, S. [3].
⁴ Karl Vötterle, Bärenreiter-Verlag Kassel, Entwicklungsgeschichte, Typoskript 27. Mai 1971 (Nachlass).
⁵ Musica 10. Jg., Heft 1, 1956, S. 35.