„Ohne Walther Hensel wäre ich nicht Verleger geworden“
DIE GRÜNDUNG DES BÄRENREITER-VERLAGS
Als sich Karl Vötterle im September 1923 mit der ersten Nummer der Finkensteiner Blätter, einem achtseitigen Volksliedheft, erstmals unter die Verleger mischte, war eines ganz sicher nicht geplant: sich an die Seite der traditionsreichen Unternehmen in Leipzig und Mainz zu stellen und einen Musikverlag von Weltrang zu gründen. Dagegen sprachen allein schon die Zeitumstände: Deutschland lag nach dem Ersten Weltkrieg am Boden; horrende Reparationspflichten und Hyperinflation belasteten in einer nie dagewesenen Weise; die junge Demokratie sah sich Angriffen von rechts und links ausgesetzt, Politik und Gesellschaft taumelten und gerieten an den Rand des Abgrunds. In einer solchen Situation ein wirtschaftliches Wagnis größeren Ausmaßes einzugehen wäre schlichtweg töricht gewesen. Aber Karl Vötterle ging es ohnehin um etwas anderes: Seine Verlagsgründung folgte der Erkenntnis, dass „wir alle in gleicher Weise an der Not unserer Zeit tragen und in gleicher Weise aufbauende Arbeit tun wollen“, wie er 1924 rückschauend auf das erste Verlagsjahr schrieb.¹ Es galt, das Trauma des Weltkriegs und die damit verbundene Demütigung zu überwinden, aber auch der als dekadent empfundenen, zwischen sensationsheischendem Unterhaltungswesen und intellektueller Vereinnahmung gespaltenen bürgerlichen Musikkultur gegenüberzutreten – letztlich die „Quelle“ der „Erneuerung des Vertrauens zu uns selber“² zu finden.
Wir – das waren die Anhänger der Singbewegung um den charismatischen sudetendeutschen Volksliedsammler und Sänger Walther Hensel, für den Vötterle in Augsburg im Frühjahr 1923 zwei Liederabende organisiert hatte und dabei sogleich dem Zauber von dessen Stimme verfallen war. Das waren auch die Teilnehmer der von Hensel geleiteten ersten Singwoche in Finkenstein bei Mährisch Trübau in der Tschechoslowakei im Juli 1923, zu denen Karl Vötterle gehörte und die wie Hans Klein auf die Zeit in „heiliger weltferner Ruhe“ zurückblickten wie auf ein Erweckungserlebnis: „Uns hat sich in Finkenstein die Musik zu erkennen gegeben als eine alles Kleinliche überwindende Lebensmacht, die ganz neue Kräfte im Menschen zu entfesseln, ihn über sich selbst zu erheben vermag. Und von diesem Musikerlebnis wollen wir nicht aufhören zu künden …“³ Kleins Erinnerungsschrift Die Finkensteiner Singwoche gehört zu den ersten Publikationen des jungen Bärenreiter-Verlags, der sich anschickte, institutionelle Strukturen für dieses „Verkünden“ bereitzustellen. Anders als Hensel besaß Karl Vötterle Tatkraft und Organisationstalent und war als Buchhandelsgehilfe und nicht zuletzt als Sohn eines Maurers geübt darin, Dinge anzupacken und Ideen zu verwirklichen. Schon vor der Singwoche hatte er für seinen kleinen Augsburger Arbeiterchor mangels guter Liederbücher einzelne Lieder abgeschrieben, im elterlichen Wohnzimmer hektographiert und, da er sich vorstellen konnte, wie die „Blätter nach vierzehn Tagen in den Händen eines Schlosserlehrlings aussehen würden“,⁴ sie gelocht und mit einer Kordel in einer selbstgebastelten Mappe fixiert. Die Anthologie stieß bald auf das Interesse befreundeter Jugendgruppen, und Vötterle kam ein kühner Gedanke: Könnte man die Liederblätter vielleicht drucken? Aber bereits Veröffentlichtes einfach nachzudrucken war ihm nicht genug. Eine neue Liederzeitschrift sollte es sein, und zwar mit Walther Hensel als Herausgeber.
Die Singwoche setzte neue Impulse: In Finkenstein erkannte Vötterle, dass es Hensel „sowohl von seiner Herkunft aus dem Grenzland als auch von seinem persönlichsten Denken her nicht vorrangig um die Musik ging“; sie war (nur) die „Haupterweckerin der in uns schlummernden Kräfte“,⁵ die er als notwendig erachtete, um die eigene kulturelle Identität allumfassend zu stärken. In dem Verlag, der Vötterle vorschwebte, dürften also nicht nur einfach Volkslieder veröffentlicht werden. Die Singwoche bescherte auch die Anschubfinanzierung für das Unternehmen, denn die Teilnehmer bestellten und bezahlten ihre Liederheft-Exemplare bereits im Voraus. Obendrein entzog Vötterle geistesgegenwärtig einen Großteil der vom Vater erhaltenen fünfzigtausend Reichsmark der galoppierenden Geldentwertung, indem er die tschechischen Kronen nicht zurücktauschte. Und eine wichtige Entscheidung fiel: Als Vötterle und sein neu gewonnener Freund Walther Sturm auf dem Rückweg auf dem Dach eines abgestellten Eisenbahnwaggons ausruhten und den Sternenhimmel betrachteten, erzählte Vötterle, welche Bedeutung der kleine Stern Alkor im Sternbild des Großen Bären für ihn seit Wandervogelzeiten hatte: „Wann Abend geworden ist und die Sterne zu sehen sind, sucht das Auge der Vertrauten das Reiterlein und die Freunde gedenken einander.“⁶ In dieser Nacht erhielt der Verlag seinen Namen: Bärenreiter.
Daheim ging es schnell: Walther Hensel hatte die Lieder für das erste Heft der Finkensteiner Blätter zusammengestellt, die Augsburger Druckerei Mühlberger, von der Vötterle wusste, dass sie Erfahrung mit Noten hatte, besorgte Satz und Druck, am 1. September konnte das allererste Verlagswerk erscheinen, das bezüglich der Aufmachung das Konzept der privat hergestellten Liederzettel weiterführte. Monat für Monat folgten weitere Hefte, flankiert von Gedichtausgaben, Märchen und sonstigen weltanschaulichen, religiösen, teils auch aus heutiger Sicht als deutschnational zu beargwöhnenden Texten. Eine Vokalmusikreihe Musikalisch Hausgärtlein und die Zeitschrift Die Singgemeinde kamen hinzu. Als Karl Vötterle am 12. April 1924 volljährig wurde, ließ er seinen Verlag in Leipzig ins Börsenvereinsregister aufnehmen und meldete ihn in Augsburg als Gewerbe an. Der Anfang war geschafft.
Gudula Schütz
Zitat Überschrift aus: Karl Vötterle, Haus unterm Stern, Kassel 4 1969, S. 93.
¹ Karl Vötterle, Das erste Jahr Bärenreiter-Verlag, Augsburg [1924], S. [3].
² Karl Vötterle, Zur Darstellung der Gründerzeit, Typoskript datiert 27.5.71, S. 1 (Nachlass).
³ Hans Klein, Die Finkensteiner Singwoche, Augsburg 1924, S. 5.
⁴ Karl Vötterle, Haus unterm Stern, Kassel 4 1969, S. 50.
⁵ Karl Vötterle, Fünfzig Jahre Finkensteiner Singwoche, Typoskript dat. März 1974, S. 5 (Nachlass).
⁶ Wie Anm. 1.