Rückschau, Analyse, Blick nach vorn

Ein Interview mit den Bärenreiter-Geschäftsführern Barbara Scheuch-Vötterle, Leonhard Scheuch und Clemens Scheuch

Bärenreiter wird gern als „Familienunternehmen“ gesehen und von Ihnen auch so bezeichnet. Wie würden Sie einem Außenstehenden erklären, was das ist?

Barbara Scheuch-Vötterle (BSV): Wie der Name schon sagt, steht hinter einem solchen Unternehmen eine Familie und nicht ein von außen kommender Geschäftsführer, dem es nur um Wachstum und schnellen Profit geht. Wir haben das große Glück, dass mit unserem Sohn Clemens die dritte Generation die Geschicke des Verlages weiterführt, und wir sehen mit Freude, dass er – genau wie wir – die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hoch schätzt. Ich darf sicher sagen, dass sich die Mehrzahl der Belegschaft in unserem Unternehmen wohl und sicher fühlt. Das ist heutzutage ein großer Vorteil.

 

Frau Scheuch-Vötterle, von den hundert Jahren der Verlagsgeschichte waren Sie die Hälfte für das Unternehmen tätig. An welche Höhepunkte erinnern Sie sich – und an welche Tiefpunkte?

BSV: Der größte Tiefpunkt war für mich die schmerzliche Erkenntnis, dass der leitende Mitarbeiter, dem mein Vater jahrzehntelang vollstes Vertrauen schenkte – und ich in der Folge zunächst auch – dieses Vertrauen missbrauchte und dass dadurch der Verlag damals in eine finanzielle Schieflage geriet.

Der Höhepunkt dieser ersten Jahre ist für mich, dass es meinem Mann und mir gelang, das Verlagsschiff mit vielen Anstrengungen und Entbehrungen wieder auf einen gesunden Kurs zu bringen.

… und für Sie?

Leonhard Scheuch (LS): Dass wir das zusammen bewirken konnten. Ich habe ja die Situation im Vorfeld nicht gekannt und war froh, dass ich Schritt für Schritt hineingekommen bin. Ich habe immer nur nach vorn gedacht.

Erinnern Sie sich daran, wie Sie zum ersten Mal die Verlagsgebäude betraten?

LS:. Bei meinem ersten Besuch hier in Kassel spielte der Verlag noch keine Rolle. Ich hatte Karl Vötterle  zuvor zweimal gesehen, und er war natürlich auch sehr interessiert, mit wem seine jüngste Tochter die Zukunft gestalten wollte.

BSV: Nach unserem ersten Kennenlernen in Brünn im September 1974 habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich dort einen Schweizer kennengelernt habe, den ich heiraten möchte. Er ahnte meine Pläne natürlich nicht, aber nach mehreren Treffen in Zürich und Leipzig war es für uns beide sehr schnell klar, dass wir an eine gemeinsame Zukunft denken.

Durch die Krankheit Ihres Vaters waren Sie gezwungen, schneller Verantwortung im Verlag zu übernehmen, als Sie wollten. Wie sehen Sie diese Jahre der Entscheidung heute? Haben Sie damals auf etwas verzichtet?

BSV: Als mein Vater erkrankte, habe ich mein Studium in Göttingen abgebrochen, um die uns verbleibende Zeit intensiv an seiner Seite verbringen zu können. Mir war bewusst, dass ich nur von ihm die entscheidenden Dinge lernen konnte. Das war für mich kein Verzicht, sondern die richtige Entscheidung.

Sie sind in einem Verlegerhaushalt aufgewachsen, in dem Geschäftliches und Privates nicht zu trennen waren. War das ganz normal für Sie oder haben Sie gedacht, es kann auch einmal von etwas anderem die Rede sein?

BSV: Natürlich drehten sich an erster Stelle die Gespräche am Familientisch hauptsächlich um Verlagsbelange. Der Übergang war fließend, viele Komponisten, Künstler und Persönlichkeiten waren bei meinen Eltern zu Gast, dadurch bin ich von Kindertagen in das Verlagsgeschäft hereingewachsen. Das Private ist aber auch nicht zu kurz gekommen.

Wie war das für Sie?

Clemens Scheuch (CS): In jungen Jahren kann man den Beruf des Musikverlegers ja noch nicht wirklich erfassen, und so war mir auch nicht klar, was es mit den Leuten, die bei uns ein und ausgingen, im Detail auf sich hatte. Es waren für mich aber dennoch oft spannende, manchmal auch skurrile Begegnungen. Und es gab auch Phasen, in denen ich nicht immer begeistert war, meine Eltern zu Konzerten und Aufführungen begleiten zu … dürfen … zu müssen. Durch den ungewöhnlichen Familienalltag hatte ich aber einen ganz anderen Zugang zum Musik- und Verlagsbereich und mit der Zeit kam so auch das Verständnis und die Begeisterung dafür hinzu.

Nachdem Sie Ihre Frau kennengelernt hatten, war es irgendwann nicht mehr zu vermeiden, über Ihre Beteiligung oder auch Nicht-Beteiligung am Verlag nachzudenken.

LS: Ich habe ja nie an eine solche Möglichkeit gedacht. Aber warum sollte ich den Mut nicht haben? Wenn ich mir zugemutet hätte, eine Theaterkarriere anzustreben, wäre es auch ein Risiko gewesen.

Die beiden ersten Begegnungen mit meiner späteren Frau haben ja auch nicht auf einen Wechsel in den Verlag hingedeutet.

BSV: Für meinen Vater war es eine große Erleichterung, dass er nach unserer Hochzeit 1975 die Zukunft seines Unternehmens in Familienhand wissen konnte. Es war spürbar, wie seine Kräfte nachließen, und nur zwei Monate später ist er bereits verstorben.

Ist Ihnen der Wechsel vom Theater in ein Wirtschaftsunternehmen schwergefallen?

LS:  Der damalige Intendant des Zürcher Opernhauses, Claus Helmut Drese, sah nach dem plötzlichen Tod meines Schwiegervaters, wie wichtig meine Anwesenheit in Kassel sein würde und entließ mich mitten in der Spielzeit aus dem Vertrag, nachdem ich ihm einen Nachfolger nennen konnte.

Womit haben Sie bei Bärenreiter angefangen?

LS: Mein Eintritt in den Verlag wurde von einigen leitenden Mitarbeitern sehr misstrauisch gesehen. Von einem dieser Herren wurde mir gesagt: „Ein Dramaturg, der kann schreiben, er kann zunächst mit der Redaktion der Zeitschrift Musica anfangen.“ Die Aufgabe einerseits mit Carl Dahlhaus und dem jungen Clemens Kühn war höchst interessant. Aber natürlich blieb es nicht allein dabei. Wie meine Frau schon angedeutet hat, mussten wir gemeinsam viele Hürden überwinden, um die Umstrukturierung des Verlages zu bewältigen. Ein ganz wichtiger und vertrauensvoller Ratgeber war für uns der Verleger Bernhard Bosse, dessen Verlag wir nach seinem Ausscheiden ganz nach Kassel übernommen haben.

BSV: Wir mussten uns erst einmal einen Überblick über die wirtschaftlichen Verhältnisse verschaffen. Es gab keine Kostenstellenrechnungen, wir wussten nicht, wie der technische Betrieb für sich allein dastand. So entschieden wir uns, eine Unternehmensberatung ins Haus zu holen, um die Schwachstellen des Betriebes sichtbar zu machen. Das war das Beste, was wir in dieser Situation machen konnten. Als Ergebnis haben wir uns 1987 von dem gesamten technischen Betrieb getrennt. Die ersten zehn Jahre haben wir eigentlich nur umorganisiert und überlegt, wie wir über die Runden kommen. Wir haben uns auch von allem getrennt, was nicht mit Musik zu tun hatte: Schauspiel, Laienspiel, Theologie. Wir wollten uns ganz auf das konzentrieren, wovon wir etwas verstanden und wofür der Name Bärenreiter steht.

Gab es irgendwann einen Punkt, zu dem Sie gesagt haben „Wir sind über den Berg!“

BSV: Das ist schwer, an einem Zeitpunkt festzumachen. Es waren wie kleine Lawinen, die über uns kamen.

Wie ein roter Faden zieht sich die Verbindung mit der tschechischen Musik und dem Land durch Ihrer beider Leben. Wie ist das zu erklären?

LS: Das Kapital meines Schwiegervaters für seinen noch zu gründenden Verlag waren 75 tschechische Kronen, die er anlässlich einer Singwoche in Mährisch Trübau als Vorschuss auf seine geplante Liedsammlung von seinen Wandervogel-Freunden erhielt. Zeit seines Lebens fühlte er sich der tschechischen Musik und den Menschen dort eng verbunden. Sehr früh nach dem Krieg schloss er Subverlagsverträge mit den staatlichen Verlagen ab. Es entwickelten sich viele Freundschaften mit dortigen Komponisten und Schriftstellern.

Ich selbst habe in Wien Theaterwissenschaft studiert, habe dort zum ersten Mal Janáčeks  Jenůfa erlebt, was mich auf nie gekannte Art beschäftigt hat, so dass mich alles nach Brünn zog, um mehr über den Komponisten zu erfahren. Ich hatte das große Glück, im Hause der Familie Štědroň bei meinen Aufenthalten leben zu können. Der Name Miloš Štědroň steht ganz eng mit der Forschung an Janáčeks Werk in Verbindung.

Auf vielen seiner Reisen hat meine Frau ihren Vater begleiten können, so auch 1974 nach Brünn zum jährlichen Janáček-Festival. Dort sind wir uns zum ersten Mal in Litomyšl, dem Geburtsort Smetanas begegnet.

Unsere beiderseitige Liebe zur Musik und den Menschen des Landes gab dann nach der Samtenen Revolution, wie die Tschechen ihre Wende nennen, den Impuls, uns an der Privatisierung des Verlages Supraphon zu beteiligen und ihn schließlich ganz zu übernehmen.

Ein Verlag wie Bärenreiter lebt zum überwiegenden Teil von Schöpfungen der Vergangenheit. Ein Mozart des 21. Jahrhundert ist nicht zu sehen. Hat die Sparte „Neue Musik“ überhaupt eine Zukunft?

CS: In den letzten Jahren haben sich die Bedingungen durch den Wunsch, immer Uraufführungen haben zu wollen, geändert. Aber nur durch Uraufführungen trägt sich ein neues Werk nicht. Ich habe den Eindruck, dass eine Blase entstanden ist, die in der nächsten Zeit platzen wird oder sogar muss, damit wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Sie ist ja auch für die Komponisten nicht erstrebenswert, denn es geht doch auch darum, ein Werk durch Nachaufführungen zu verbreiten. Es gibt aber zum Glück auch Gegenbeispiele wie das Klavierkonzert von Dieter Ammann.

Irgendwann werden alle großen Werke der Musikgeschichte, die Marktchancen versprechen, im Bärenreiter-Katalog verfügbar sein. Wird dann das Erarbeitete nur noch verwaltet und allenfalls renoviert werden?

CS: „Nur renovieren“ klingt weniger aufregend, als es ist. Wenn neue Quellen und neue Betrachtungsweisen auftauchen, kann das ja durchaus auch sehr spannend sein. Das Bewahren und Überarbeiten ist eine wichtige Aufgabe. Man weiß ja auch nicht, welche Veränderungen im Musikbetrieb stattfinden werden, Wiederentdeckungen zum Beispiel, die wir dann begleiten oder im besten Fall sogar mit einleiten können wie bei Händel. Aber sicher wird der Schwerpunkt immer auf der älteren und nicht auf der neuen Musik liegen.

LS: Als die großen Gesamtausgaben abgeschlossen waren bzw. deren Herausgabe sich dem Ende nahte, habe ich mich schon manchmal gefragt, was noch kommen könnte. Aber es gibt immer noch wichtige Komponisten, deren Schaffen in einer Gesamt -oder Werkausgabe wissenschaftlich zu erarbeiten sind. Viele Anstöße kamen aus der Zusammenarbeit unserer Lektoren mit der Wissenschaft. Auch durch unser Prager Verlagshaus eröffneten sich neue Möglichkeiten.

CS: Es gibt noch genug spannende Felder ganz neu oder wiederzuentdecken. Oder auch andere Herangehensweisen wie die Vervollständigung von Mozarts Requiem durch Michael Ostrzyga können Erfolg haben, sie ist schon jetzt eine der am besten nachgefragten Neuerscheinungen der letzten Jahre. Mit der Pflege, Überarbeitung und ständigen Hinterfragung des Programms werden wir genug zu tun haben, so dass ich für die nächsten Jahre und Jahrzehnte keine Gefahr sehe, dass wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen.

„Digitalisierung“ ist das große Schlagwort überall. Wie weit kann ein Musikverlag gehen, ohne sich selbst das Wasser abzugraben?

CS: In den Arbeitsprozessen ergibt sich eine immense Erleichterung. Digitalisierung bei den Vertriebswegen birgt Gefahren, keine neuen zwar, denn die Gefahr, dass Werke des Hauses im Umlauf sind, ohne dass wir davon profitieren können, gab es immer. Die unberechtigte Vervielfältigung ist heute zwar leichter, aber man kann ihr auch besser begegnen und darüber aufklären.

Man muss genau beobachten, welche Form der Nutzung sich durchsetzt. Ich glaube nicht, dass das Papiergeschäft in absehbarer Zeit verschwinden wird, sondern dass heute die digitale Nutzung von Noten eine weitere Möglichkeit für Musiker und Musikwissenschaftler ist, das passende Werkzeug für die jeweilige Situation zu finden. Auch bei jüngeren Musikern kann man beobachten, dass für die ernsthafte Auseinandersetzung und für Aufführungen oft die gedruckten Noten genutzt werden.

Was passiert, wenn auch kreative Bereiche erfasst werden, können wir noch nicht vollständig vorhersehen. Aber auch hier sehe ich die Technik eher als ein Werkzeug, denn auch die ausgefeilteste digitale Technik oder Künstliche Intelligenz kann nichts anders machen, als Vorhandenes zu analysieren und zu rekombinieren. Es entsteht so von alleine nichts Originelles. Den in meinen Augen entscheidenden Input des kreativen Schaffens, die emotionale Ebene, kann Künstliche Intelligenz nicht hinzufügen.

2048 wird Bärenreiter – hoffentlich! – 125-jähriges Bestehen feiern. Wenn Sie die Entwicklung aus Ihrer aktiven Zeit im Verlag hochrechnen: Wie könnte Bärenreiter dann aussehen?

CS: Ich glaube, von der inhaltlichen Ausrichtung wird sich der Verlag nicht allzu sehr von heute unterscheiden. Die Nutzungsarten werden sicher andere sein, und in den nächsten 25 Jahren werden noch Dinge hinzukommen, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können, stärker individualisierte Angebote zum Beispiel.

Wahrscheinlich wird auch die große – staatlich unterstützte – kulturelle Bandbreite in Deutschland nicht mehr so vorhanden sein. Die aktuelle Entwicklung in England ist sicherlich als Vorbote zu betrachten. Aber im Kern wird das Geschäft dasselbe sein. Man wird sich darauf konzentrieren, die Werke, die Komponisten hinterlassen haben, so aufzubereiten, dass man den Musikerinnen und Musikern die bestmögliche Basis für ihre Interpretation geben kann.

Klassische Musik darf nie zu etwas Elitärem für Best-Ager und Wohlsituierte werden, mit dem sich junge Menschen gar nicht mehr auseinandersetzen wollen, weil ihnen kein Zugang ermöglicht wurde. Die entscheidende Frage ist, wie man junge Menschen an Musik und Kultur heranführen kann. Je früher das Interesse geweckt wird, desto größer kann es wachsen. Für mich sind es die schönsten Momente, wenn es gelingt, Menschen für die Musik zu begeistern. Wenn die Grundvoraussetzungen vorhanden sind, habe ich keine Befürchtungen, dass die klassische Musik eine Zukunft hat.

Allein auf der berühmten einsamen Insel, aber mit Stereoanlage. Sie dürfen die Gesamteinspielung eines einzigen Komponisten mitnehmen. Wen würden Sie wählen?

LS: Keine Frage: Leoš Janáček.

BSV: Schwierig … Es gibt Momente, da höre ich Mozart oder Schubert. Aber wenn es nur einer sein darf, dann Georg Friedrich Händel.

CS: Wenn ich mich nur für einen entscheiden müsste, wäre es wohl Beethoven.

 

Das Interview führte Johannes Mundry am 3. April 2023.