Von Augsburg nach Kassel, vom Volkslied zu Schütz

BÄRENREITER IN DEN ERSTEN JAHREN

Der 22. März 1926 war für den jungen Verlag, der seit 1925 bereits über eigene Räumlichkeiten verfügte, ein Datum von weitreichender Bedeutung: Der frisch promovierte Richard Baum aus München schickte sich an, den kleinen Mitarbeiterkreis um Gertraud Hahn, seit 1924 rechte Hand Karl Vötterles, als Lektor zu erweitern – nicht wissend, dass er mehr als fünfzig Jahre bleiben würde. Ein Musikwissenschaftler ohne Ahnung von Verlagsarbeit stieß auf einen jungen Verleger ohne Ahnung von Musikwissenschaft, kokettierte Vötterle später einmal,¹ und tatsächlich trafen anfangs zwei Welten aufeinander: Baum war regelrecht erleichtert, als ihm sein Chef am ersten Arbeitstag „nicht in Wandervogelkluft, sondern in langen Hosen und mit Schlips entgegentrat“.² Doch so fremd waren sich die beiden Bereiche eigentlich nicht: Schon 1923 hatte Vötterle den jungen Hallenser Professor Hans-Joachim Moser als Juror für ein Singtreffen in Fürstenfeldbruck gewinnen können, und Konrad Ameln, der bei Joseph Müller-Blattau in Königsberg studierte, hatte er auf einer Singwoche kennengelernt. Das Verlagsverzeichnis von 1925 spiegelt diese „Schnittmenge“ bereits wider: Das von Ameln herausgegebene Locheimer Liederbuch und Müller-Blattaus Ausgabe der Forkelschen Bach-Biographie waren gewichtige Neuveröffentlichungen. An ihrer Seite stehen – ergänzend zu den fortlaufend publizierten Volksliedheften Wilhelm Hensels und zahlreichen theologischen Schriften – praktische Editionen ausgewählter Werke von Johann Sebastian Bach, John Dowland, Hans Leo Haßler und Leonhard Lechner, für die erfahrene Musiker wie der Lautenspezialist Heinz Bischoff und der Musikerzieher Walther Pudelko verantwortlich zeichneten. Das Feld war also bestellt, Richard Baum konnte loslegen.

Bereicherte zunächst vor allem Vokalmusik alter Meister das Verlagsprogramm der Anfangszeit, kamen nach 1926 vermehrt Instrumentalwerke hinzu. Dies stand nicht etwa im Gegensatz zu den Prämissen der Singbewegung, sondern war im Grunde eine konsequente Entwicklung: Choräle und geistliche Lieder waren schon in Finkenstein erklungen, ebenso wie Kammermusik dort fest zur Abendgestaltung gehört hatte. Eine weitere Dynamik kam durch die Freiburger Orgeltagung 1927 in Gang, die für die Kirchenmusik und die deutsche Orgelbewegung eine vergleichbare Initialzündung darstellte wie Finkenstein für die Singbewegung. Karl Vötterle – aktiv im Berneuchener Kreis, der sich für eine sakramentale Erneuerung der Kirche einsetzte und damit ähnliche Ideen verfolgte wie die Singbewegung im Bereich der Musik – verlegte den Tagungsband; neue Herausgeber wie Hermann Keller und Karl Matthaei edierten nun Maßstab setzende Orgelmusik-Ausgaben, die zum Teil bis heute im Programm sind. Geradezu wegweisend war der Titel der 1929 unter der Schriftleitung von Christhard Mahrenholz erstmals erschienenen Zeitschrift Musik und Kirche: Bärenreiter gewann zunehmend Profil als Musikverlag mit dezidiert theologischem Bezug – eine Entwicklung, die in der Zeit des Nationalsozialismus existenzgefährdend wurde, 1953 dagegen mit der Verleihung der Ehrendoktorwürden in den Fächern Musikwissenschaft (Uni Kiel) und Evangelische Theologie (Uni Leipzig) an Karl Vötterle öffentliche Würdigung fand.

Ende der 1920er-Jahre rückten die Alte-Musik-Ausgaben des Bärenreiter-Verlags in das Blickfeld der Musikwissenschaft. Alfred Einstein, der in der Programmgestaltung „eine Art von neuem musikalischen Nazarenertum“ sah, erteilte einen Vertrauensvorschuss: „Die Musikforschung sieht dem stillvergnügt zu, und – was auch aus solchem Beginnen und Tun entstehen mag –: die objektive Erkenntnis der Vergangenheit wird ihren Gewinn davon haben.“³ Vor allem ein Name rückte immer stärker in den Fokus: Heinrich Schütz. Mit der Historia der Auferstehung Jesu Christi, den Musikalischen Exequien und den ersten Heften der Geistlichen Chormusik 1648 kamen, begleitet von Einsteins Biographie, ab 1929 erste Neuausgaben bei Bärenreiter heraus. 1930 gehörte Vötterle zu den Begründern der Neuen Schütz-Gesellschaft, auf deren Musikfesten die Werke des Komponisten erklangen und die nach dem Krieg Auftraggeber einer neuen Schütz-Gesamtausgabe im Bärenreiter-Verlag war. Dass eine derartige Konzentration auf die alten Meister in der Rückschau verwunderte und auch Zweifel aufkommen ließ, verriet Richard Baum fünfzig Jahre nach seinem Eintritt in den Verlag: „Ich habe mich oft gefragt, ob ich in der Zeit, als ich einziger hauseigener Lektor des Verlages war, mit verschuldet habe, daß wir in der Zeit, als Schönberg seinen ‚Moses und Aaron‘, Strawinsky seine ‚Psalmen-Sinfonie‘, Alban Berg sein Violinkonzert schrieb, an diesem Kapitel europäischer Musik vorbeigegangen sind und in grandioser Einseitigkeit alte Meister […] verlegten. Aber ich tröste mich mit der Tatsache, daß auf diesem Wege doch ein ganz wichtiges Kapitel europäischer Musikgeschichte erschlossen wurde, das in der Folge und bis zum heutigen Tage unzähligen Menschen zu einer Erweiterung und Vertiefung ihres Musizierens verholfen hat.“

Schließlich noch eine wichtige Begebenheit: 1927 lernte Karl Vötterle auf einer Singwoche Maria Zeiß aus Kassel kennen. Ihr Vater war es, der den Verleger nach Nordhessen lockte, als dieser räumlich expandieren wollte und in Augsburg keine Rahmenbedingungen hierfür fand. Ein Grundstück auf der Wilhelmshöhe sowie ein von Oberbürgermeister Herbert Stadler unbürokratisch vermittelter Kredit schufen die Voraussetzungen dafür, dass schon im Sommer mehrere Güterwagen gen Norden rollten. Sechs von vierzehn Mitarbeitern gingen mit; neue kamen dazu. Am 10. September 1927 wurde das junge Paar in der Kasseler Martinskirche durch Hermann Schafft getraut, und Karl Vötterle fand, was er sich gewünscht hatte: Ein Stadt, in der er nicht nur arbeiten, sondern auch kulturell wirksam werden konnte. „Es waren Jahre des Aufbruchs und der Besinnung, beglückende Jahre, in denen wir – hingegeben an das Neue, das sich vor uns auftat – abseits standen vom politischen Leben und nicht
sahen, was da auf uns zukam.“

Gudula Schütz


¹ Das Bärenreiter-Werk 21, 1972, S.8.
² Ebd. 15, 1966, S. 12.
³ A[lfred] E[instein], Bücherschau, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 5, 1927, S. 310.
⁴ Das Bärenreiter-Werk 25, 1976, S. 38f.
⁵ Karl Vötterle, Haus unterm Stern 41969, S. 92.

1926 Bärenreiter Gesamtverzeichnis Cover
1926 Bärenreiter-Verlag Augsburg
1927 Umzugsanzeige in Finkensteiner Blätter
1927 Verlagshaus Kassel