Zwischen Anpassung und Verweigerung
Der Bärenreiter-Verlag in der Zeit des
Nationalsozialismus
„Ich bilde mir nicht ein, daß ich immer immun war gegen die ungeheure Massensuggestion der NS-Propaganda. Es widert mich an, wenn heute jeder so tut, als hätte er schon in den ersten Jahren oder gar vor 1933 den Nationalsozialismus durchschaut.“¹ Karl Vötterles emotionale Stellungnahme zum „Dritten Reich“, geäußert 1947, und zu seiner Position in dieser Zeit verpflichtet uns als nachfolgende Generation, vor allem jene, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen in einem totalitären Staat nicht selbst erlebt haben, zu einem reflektierten Umgang mit den Geschehnissen zwischen 1933 und 1945. Dass sich in Nachkriegsquellen wie Vötterles Schrift Haus unterm Stern manch andere Lesart findet als in Dokumenten aus der NS-Zeit, liegt auf der Hand, darf aber nicht automatisch als Versuch der nachträglichen Verschleierung eines wie auch immer gearteten Mitläufertums bewertet werden. Vötterle trug Verantwortung für sich, seine Familie, sein Unternehmen und nicht zuletzt für rund einhundert Mitarbeiter – es wäre anmaßend, ihm vorzuwerfen, dass er nicht alles aufgab und emigrierte oder gar in den offenen Widerstand ging. Sein Handeln entspricht in seiner Ambivalenz dem vieler anderer Menschen in jener Zeit.²
Trotz der raschen Gleichschaltung des gesamten öffentlichen Lebens nach Hitlers Machtergreifung 1933 konnte der Bärenreiter-Verlag zunächst relativ unbehelligt weiterarbeiten; lediglich der aus der Singbewegung um Walther Hensel hervorgegangene Finkensteiner Bund wurde zwangsaufgelöst, was auch das Ende der Zeitschrift Die Singgemeinde bedeutete. Mit Geschick und einem gewissen Maß an Kaltschnäuzigkeit lenkte Vötterle die Aktivitäten jedoch in den eigens dafür gegründeten Arbeitskreis für Hausmusik um, der sich mit seinem unverfänglichen Namen „harmlos“ gab und bei den neu initiierten Kasseler Musiktagen unbeirrt alte und neue Kirchenmusik zur Aufführung brachte. 1934, in einer Zeit wirtschaftlicher Erholung, feierte der Verlag sein zehnjähriges Bestehen, 1936 den eintausendsten Verlagsartikel. Bärenreiter profitierte eindeutig davon, dass von Beginn an „das nationale Anliegen in der Musik“³ zur Eigenprofilierung gehört hatte; hieran konnte die Parteiideologie nichts aussetzen, und umgekehrt sahen Vötterle und die Anhänger der Singbewegung zunächst durchaus einige ihrer zentralen Anliegen vom Nationalsozialismus unterstützt, freilich ohne dass sie jemals staatspolitische Ziele verfolgt hätten. Welche Gratwanderung damit einherging, zeigt indes ein Streit, der sich 1952, lange nach Kriegsende, an einer Aussage Karl Vötterles entzündete: „Wie immer man auch zum totalen Staat Adolf Hitlers stehen, welche Erfahrungen man auch im einzelnen mit ihm gemacht haben mag, das Entscheidende ist, daß es damals gelungen ist, die Jugend zu einem gemeinsamen Tun, zu schöpferischer Gestaltung der Freizeit zu gewinnen.“⁴ Es war Theodor W. Adorno, der daraufhin schwerste Vorwürfe erhob, indem er pauschalisierend dem Wandervogel eine unmittelbare Vorläuferschaft zur Hitler-Jugend unterstellte und sich jegliches Relativieren der Gräueltaten des Nazi-Regimes verbat.⁵ Vötterle wiederum sah angesichts solcher, auch schon von anderen erhobener Anschuldigungen seine persönliche Integrität verletzt: „Es gibt Menschen, die […] alle und jede noch so gute Arbeit, die in den letzten 12 Jahren geleistet wurde, ablehnen und ihr den Blutgeruch der NS-Herrschaft vorwerfen.“⁶ Er nahm für sich in Anspruch, allein durch die „Bewahrung des Guten“ – gemeint waren christliche Werte ebenso wie etwa alte und neue (Kirchen-)Musik – den „wirkungsvollsten Widerstand“ geleistet zu haben.⁷
Dass freilich auch der Bärenreiter-Verlag nicht frei war von Anbiederungen an den Nationalsozialismus, zeigen etwa der Abdruck eines auch als Postkarte erhältlichen Hitler-Bildnisses im Gesamtverzeichnis von 1936 sowie die Veröffentlichung mehrerer in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen entstandener, linientreuer Liederbücher. So sehr dies ohne Frage systemstabilisierend gewirkt hat – auf eine bedingungslose Gefolgschaft kann daraus keineswegs geschlossen werden. Doch auch die Mitgliedschaft in der Reiter-SA (1936–1938) und in der NSDAP (seit 1937) ist Vötterle nicht nur im späteren Entnazifizierungsverfahren vorgeworfen worden. Allerdings konnte er dort glaubhaft machen, dass beides weder aus ideologischer Überzeugung noch aus politischem Wollen geschah, sondern er sich seinen banalen Wunsch zu reiten – nicht ahnend, wie ihm das später ausgelegt werden würde – aufgrund des gleichgeschalteten deutschen Vereinswesens in anderer Weise nicht hätte erfüllen können. Diese Mitgliedschaft hatte wenig später die Aufforderung zum „freiwilligen“ Parteieintritt nach sich gezogen. Schließlich ist auch hinsichtlich der Deutung des Hitler-Porträts Vorsicht geboten: Es drängt sich zumindest die Frage auf, ob dieses in einer sonst ausschließlich auf Komponisten und Musizierszenen ausgelegten Postkartenreihe nicht als ein taktisches Zugeständnis in Folge unmittelbarer Bedrohung zu sehen ist, denn kurz zuvor hatte die Existenz des Bärenreiter-Verlags auf dem Spiel gestanden: So undifferenziert und naiv Vötterle bezüglich der Ziele der Singbewegung argumentierte, so klar stand ihm und seinen Mitarbeitern schon 1935 die Grausamkeit des Regimes vor Augen, denn seine Zeitschrift Der Sonntagsbrief bezog am 18. August dieses Jahres mehr oder weniger offen Stellung gegen das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Hatte Vötterle durch die Inverlagnahme geistlicher Werke von Hugo Distler und weiteren zeitgenössischen Komponisten sowie das theologische Schrifttum bereits den Argwohn sowie etliche Schikanen seitens der Kasseler NSDAP-Kader auf sich gezogen, wurden er und Paul Gümbel als Schriftleiter der Zeitschrift im Dezember 1935 nun aus der Reichspressekammer ausgeschlossen. Dies hätte die Vernichtung der beruflichen Existenz beider und wohl auch die des gesamten Verlags bedeutet. Lediglich auf Vermittlung hochrangiger Funktionäre der Reichsmusikkammer und des Propagandaministeriums wurde die Entscheidung Anfang 1936 zurückgenommen – dies um den Preis der formellen Zerschlagung des Bärenreiter-Werks: Den Neuwerk-Verlag verkaufte Vötterle „ohne Verlagswerke, jedoch mit Kirchenzetteln und Jahresbriefen“, seinem langjährigen Druckereileiter Eduard Kurbjuhn, den Johannes Stauda-Verlag samt theologischer Sparte des Bärenreiter-Verlags seinem Mitarbeiter Paul Gümbel, um „für eine richtige Weiterführung“ der von ihm begonnenen Arbeit zu sorgen.⁸ Nur Der Sonntagsbrief musste in fremde Hände gelegt werden; er wurde zum Jahreswechsel 1936/37 eingestellt.
Dass sich für Vötterle immer wieder Handlungsspielräume eröffneten, die er taktisch klug zu nutzen wusste, hatte er den zumeist durch Rivalitäten erzeugten Widersprüchen innerhalb des kulturpolitischen Kurses der Partei und nicht zuletzt seinen zahlreichen guten Kontakten zu verdanken. Trotz andauernder Repressalien vermochte der Verleger so sein Programm weiterzuführen und wagte ab 1939 eine offizielle vertriebliche Zusammenarbeit mit seinem jüdischen Freund Albert Dann, der nach Palästina geflohen war. Vor allem aber fand Vötterle „Trost in großen Plänen“⁹: Bereits 1943 rief eine Anzeige zur Subskription der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart auf, und das im September 1944 zusammengestellte Verlagsverzeichnis verzeichnet die ersten Bände der Reihe Das Erbe deutscher Musik sowie in Vorbereitung befindliche Gesamtausgaben der Werke von Gluck, Händel, Monteverdi, Pergolesi, de la Rue, Schein, Spohr, Telemann und Johann Walter – freilich mit dem Hinweis versehen, dass die „Aufnahme eines Werkes […] keineswegs“ bedeutet, „daß dieses jetzt oder in absehbarer Zeit lieferbar ist“.
Mit zunehmender Kriegsdauer wuchs das Maß der Bedrohung: Im Herbst 1943 war Vötterles Kasseler Kulturveranstaltungsreihe verboten worden, am 22. Oktober fiel bei einem Großangriff die Stadt in Schutt und Asche – der Bärenreiter-Verlag auf der Wilhelmshöhe blieb zwar verschont, musste aber eine Kriegsarbeitsgemeinschaft eingehen; für Musikalien war längst kein Papier mehr da. Privates Leid kam hinzu: Am 1. Februar 1944 verlor Vötterle seine Frau Maria nach langer schwerer Krankheit, nachdem 1942 bereits sein Vater und Schwiegervater verstorben waren. Aus dem Empfinden heraus, vom NS-Regime anhaltend gegängelt zu werden, traf Vötterle im März 1944 Vorkehrungen für eine Auslagerung des Verlags in die Schweiz: Paul Sacher und August Wenzinger halfen bei der Gründung der Baseler Dependance, die vorsorglich mit Verlagsrechten und Vorräten ausgestattet wurde. Im September wurde der Verleger als Erdarbeiter an den Westwall geschickt, nach der Rückkehr im November als Fahrer zur Wehrmacht eingezogen. Tagebucheinträge aus den ersten Wochen des Jahres 1945 zeugen von der Sorge um seine vier Kinder, die Verlagsgebäude, die pure Bewältigung jedes einzelnen Tags – kein Optimismus mehr, nur noch Durchhaltewillen. Die vollständige Katastrophe kam spät und nicht mehr erwartet: Kurz vor Kriegsende, in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1945, zerstörten die letzten auf Kassel abgeworfenen Bomben alles, den Verlag, die Druckerei, das Wohnhaus.
Als das Tageslicht auf die Tragödie fiel, griff Pfarrer Bernhard Martin, Zeitschriftenredakteur des Johannes-Stauda-Verlags, zu Stift und Papier: „Worte verstummen im Anprall des übermächtigen Schicksals. Lasse uns dennoch, mein Freund, Gottes Liebe vertrau’n!“¹⁰ Ein Gedanke der Zuversicht, formuliert nicht zuletzt aus der Erleichterung heraus, mit dem Leben davon gekommen zu sein – er wurde Karl Vötterle zum Leitspruch in einer Zeit, die trotz einkehrenden Friedens und der Möglichkeit zum Neuanfang alles andere als einfach für ihn war. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP musste er sich Anfang 1947 einem Entnazifizierungsverfahren stellen, in dem man ihn zunächst als Mitläufer einstufte, da ihm zwar „ein nicht unbedeutender ideeller Schaden“ entstanden „und wohl auch eine starke seelische Belastung“ nachzuweisen sei, die Spruchkammer „diese Nachteile“ aber „nicht für ausreichend“ hielt, um Vötterle vollständig zu entlasten.¹¹ Erst in einem Wiederaufnahmeverfahren wurde der auch von Freunden und Weggefährten, der Verlagsbelegschaft sowie sogar von mehreren der in richterlicher Funktion am Prozess Beteiligten als ungerecht empfundene und angefochtene Urteilsspruch aufgehoben, dessen Begründung seltsamerweise nicht auf Vötterles als untadelhaft beschriebenes Handeln, sondern auf das Maß der erlittenen Repression rekurrierte.
Im November 1947 war Vötterle rehabilitiert und durfte wieder als Verleger tätig werden. Zweieinhalb Jahre nach Kriegsende hatte er seine unternehmerische Freiheit zurückerlangt, unter deren massiver Einengung er während der Zeit des Nationalsozialismus wohl am meisten gelitten hatte.
Gudula Schütz
¹ Karl Vötterle, Verteidigung im Berufungskammerverfahren, Typoskript [1947], S. 3 (Nachlass).
² Eine detailliertere Untersuchung unternahm Sven Hiemke in „Folgerichtiges Weiterschreiten“. Der Bärenreiter-Verlag im „Dritten Reich“, in: Bärenreiter-Almanach. Musik-Kultur heute. Positionen – Profile – Perspektiven, Kassel u. a. 1998, S. 161–170.
³ Vötterle, Haus unterm Stern 41969, S. 128.
⁴ Vötterle, In letzter Stunde, in: Die Hausmusik 16, 1952, S. 2.
⁵ Theodor W. Adorno, Kritik des Musikanten, in: Dissonanzen, Göttingen 1956, S. 62–101.
⁶ wie Anm. 1, Schlusswort.
⁷ Vötterle, Zwölf Jahre Bärenreiter-Verlag Kassel. Tatsachen aus den Jahren 1935–1947, Typoskript 13. Okt. 1947, S. 4 (Nachlass).
⁸ Vötterle und Paul Gümbel, Rundschreiben an die Freunde und Mitarbeiter, Mai 1936 (Nachlass).
⁹ Vötterle, Bärenreiter-Verlag Kassel, Entwicklungsgeschichte, Typoskript 27. Mai 1971 (Nachlass).
¹⁰ Autograph (Nachlass); auch in Bärenreiter-Bote 11, 1945–1947, S. [2].
¹¹ Urteil der Spruchkammer IV Kassel-Stadt, 1. Febr. 1947, Abschrift (Nachlass).