Der Bärenreiter-Bär
Kleine Geschichte des Verlagslogos
Wenngleich sich Karl Vötterle 1923 mit einer großen Portion jugendlicher Unbefangenheit ins Verlegerdasein stürzte – weltfremd war er schon damals nicht. Als Buchhandelsgehilfe mit den Gepflogenheiten des Markts vertraut und ausgestattet mit einem instinktiven Gespür für die Bedeutung bibliophiler Details, hatte er sogleich die Notwendigkeit eines passenden Verlagszeichens für sein Unternehmen gesehen, da doch „alle großen Verleger ein Verlagssignet führten“ (Haus unterm Stern 11949, S. 32). Selbstbewusst und mit klaren Vorstellungen im Kopf suchte Vötterle den namhaften Grafiker Bruno Goldschmitt (1881–1964) in München auf und erzählte, dass er „einen Verlag gründen wollte und daß dieser Verlag Bärenreiter-Verlag heißen solle. […] Ich sagte ihm, das Verlagszeichen müsse einen Bären, und zwar einen trabenden Bären zeigen, auf diesem Bären muß ein Junge stehen, und dieser Junge muß nach einem Stern greifen. Im Bären sah ich die Welt; der Junge, der auf diesem trabenden Bären steht und kühn nach dem Stern greift, sollte natürlich ich sein.“ (ebd.) Der Griff nach dem Unerreichbaren mag als Hybris des Anfängers erscheinen, ist aber Sinnbild für Vötterles Fähigkeit, „groß“ zu denken und dementsprechend zu handeln. So war es auch unerheblich, dass mit Breitkopf & Härtel bereits ein Konkurrent einen Bären (angelehnt an einen Wirtshausnamen) als Verlagszeichen führte. Vötterles Blick ging in eine ganz andere Richtung: zum kleinen Stern Alkor, dem „Reiterlein“ im Sternbild des Großen Bären – Sehnsuchtsobjekt der Wandervögel, Symbol des Aufbruchs, Wegweiser. Bruno Goldschmitt nahm den Auftrag an.
Als der Bärenreiter-Verlag auf sicheren Füßen stand, wurde der Junge im Signet obsolet. Goldschmitt zeichnete einen großen vierzackigen Stern und setzte unter ihm den Bären auf die drei Buchstaben „BVA“ (Bärenreiter-Verlag Augsburg). Auch nach dem Umzug nach Kassel 1927 blieb sein Entwurf in Gebrauch; lediglich die Buchstaben entfielen. Mit dieser erneuten Reduktion hat das Verlagszeichen seine endgültige Identität gefunden und wurde, abgesehen von kleinen Varianten, die in den frühen MGG-Bänden und bei einzelnen Notenausgaben erscheinen, nur noch zweimal grafisch angepasst: Anfang der 1940er-Jahre beauftragte Karl Vötterle – getreu seiner Grundüberzeugung „Nie an der Ausstattung sparen; es lohnt sich!“ (Bärenreiter-Tagebuch 1944, 4. Jan.) –, den renommierten Leipziger Buchkünstler und Typografen Walter Tiemann (1876–1951), der Bär und Stern stärker stilisierte und siegelartig in einen Kreis setzte. Und 1985 war die Zeit erneut reif für ein moderneres, der jungen Generation, die inzwischen die Verlagsgeschicke in Händen hielt, gemäßes Signet. Es sollte einen Bären (und zwar keinesfalls einen Eisbären!) zeigen, der erhobenen Hauptes kraftvoll und dynamisch schreitet. Den Auftrag erhielten zwei Kasseler Künstler, die gerade erst ihr Studium abgeschlossen hatten: Axel Kretschmer und Bernhard Skopnik (beide Jg. 1958). Ihr Entwurf ziert seitdem alle Bärenreiter-Ausgaben und wird aufgrund des zeitlosen, ausgewogenen Designs den Verlag auch in sein zweites Jahrhundert hinein begleiten.
Der kleine Stern auf dem Großen Bären, der den jungen Wandervogel Karl Vötterle fasziniert hatte, blieb dem Verleger zeitlebens „das verpflichtende Sinnbild“ seiner Arbeit (Haus unterm Stern, 11949, S. [5]), und auch das Logo ist mehr als nur ein Reflex der Bärenreiter-Anfänge: Anlässlich des 50-jährigen Verlagsbestehens resümierte Vötterle: „Als ich vor einem halben Jahrhundert in meiner Heimatstadt Augsburg begonnen habe, war mein Blick auf einen Stern gerichtet. […] Ich habe den Stern auch heute nicht erreicht. Etwas Ungreifbares wurde aber Aufgabe und Sinn meines Lebens, und rückschauend wurde unerreichbar Erscheinendes verwirklicht. Das Ungreifbare, das ich meine, ist die Musik.“ (Das Bärenreiter-Werk 22, 1973, S. 10)
Gudula Schütz